Herbergssuche


„Nein, nein, nein!“ Sebastian schüttelt den Kopf und stampft trotzig mit dem Fuß auf. Er spielt den Herbergsvater im Krippenspiel der Erstklässler. Und er soll, so sieht es die Rolle vor, dem suchenden Paar Josef und Maria die Tür weisen. Sebastian will das nicht übers Herz bringen. „“Die kommen von so weit her, die die frieren doch. Und Maria erwartet ein Kind. Die muss ich doch reinlassen!“
Sebastians weiches Herz will sich auch hier durchsetzen. Herr Kramer hebt erneut an, die Rolle zu erklären. Dass es nicht darauf ankommt, ob er – Sebastian – dies nun richtig oder falsch finde, sondern allein darauf, was die Rolle vorsehe und das Stück verlange. Und dass es unabsehbare Folgen habe, wenn in der Herberge plötzlich doch noch ein Platz gefunden werde. Was wäre dann mit dem Stalle, den Hirten und den Weisen aus dem Morgenland? Nein, Sebastian müsse schon den hartherzigen Herbergswirt spielen. Außerdem fehle die Zeit, jetzt noch andere Kinder die Rolle einstudieren zu lassen. Widerstrebend verzieht sich Sebastian auf seinen Platz.
Der Abend der Aufführung. Von links trotten Josef und Maria in das Dorf, klopfen vergeblich an einige Türen und Fenster und stehen endlich auch von Sebastians Haus. „Habt ihr noch ein Zimmer für zwei arme Wandersleut‘?“, fragt Josef, als Sebastian die Tür öffnet. Lehrer Kramer hält den Atem an.
„Nein, bei mir ist alles besetzt. Kein Bett und keine Liege mehr frei. Tut mir leid. Da müsst ihr schon früher kommen!“ Sebastian sagt seinen Text, so wie es im Buch steht, kalt und abweisend.
Herr Kramer will schon aufatmen, da breitet Sebastian die Arme aus: „Aber auf eine Tasse Kaffee und ein Stück Kuchen könnt ihr gern reinkommen.“

Martin Thull in:
R. Abeln, Denn geboren ist die Liebe. Ein Familien-Lesebuch von Sankt Martin bis Dreikönig, Keverlaer 2008